Offener Brief der Quartiersräte an die Politik

Die Quartiersräte Falkenhagener Feld Ost und West haben gemeinsam einen offenen Brief an Vertreter*innen der Politik verfasst. Er enthält Forderungen, die drängendsten sozialen Probleme im Quartier (und in anderen Großwohnsiedlungen) stärker in den Fokus der politischen Arbeit zu rücken. „(…)Lassen Sie nicht zu, dass sich die sozialen Problemlagen in unserem Quartier und anderswo weiter verschärfen. In Berlin gibt es 51 Großwohnsiedlungen. Dort leben insgesamt eine Millionen Menschen. (…) Raus aus dem S-Bahn-Ring, rein in die Siedlungen!“  HIER DEN GANZEN BRIEF LESEN

Der Brief wird von der Stadtteilkonferenz Falkenhagener Feld unterstützt. Ein Gremium aller im sozialen, schulischen und kulturellen Bereich arbeitenden Projekte, Initiativen, Verbände und Einrichtungen der öffentlichen und freien Träger. Unten stehend der Brief im Wortlaut:

Sehr geehrte Frau Kipping, sehr geehrter Herr Kleebank, sehr geehrter Herr Wegner,

rund 38.000 Menschen leben zurzeit in der Großwohnsiedlung Falkenhagener Feld. Armut, Existenzängste, Mangelernährung bei Kindern und Senior*innen gehörten bereits vor den aktuellen Krisen zu prägenden Phänomenen des Lebens der Menschen hier. Die steigenden Preise auf die Güter des täglichen Bedarfs verschärfen die bereits bestehende soziale Notlage, die Strom- und Gasversorgung wird zum Luxus. Hier im Quartier sind bereits 27 Prozent der Menschen auf Transferleistungen angewiesen. Der Anteil erwerbsloser Menschen liegt bei rund 8 Prozent. Mehr als jedes zweite Kind ist hier von Armut betroffen.

Hier haben viele Menschen Angst vor der nächsten Energierechnung und der nächsten Teuerungswelle, auch die, die bisher ohne Sozialleistungen über die Runden kamen. Das Klima im Quartier wird rauer und die Menschen sind zunehmend weniger in der Lage, den wachsenden psychischen Belastungen Stand zu halten. Auch rassistische und antisemitische Äußerungen und Beleidigungen nehmen spürbar zu.

Das Falkenhagener Feld ist nicht Charlottenburg und auch nicht der Prenzlauer Berg. Hier ist der Stadtrand und hier gehen die Menschen bereits jetzt auf dem sprichwörtlichen Zahnfleisch. Hier können soziale Schieflagen nicht ausreichend durch die Zivilgesellschaft aufgefangen werden. Bestehende Strukturen zur Selbsthilfe drohen zu zerbrechen. Hier gibt es keine Schwemme von sozialen Akteuren, die dort einspringen wo der Staat nicht mehr ausreichend präsent ist. Hier profitiert niemand von reicheren Kiezen oder neuen Jobs in der Hauptstadt. Die Menschen brauchen Antworten auf die aktuellen Krisen und Perspektiven für eine Zukunft ohne Angst vor Hunger, kalten Wohnungen oder dem Verlust ihres Zuhauses. 

Während Sie unserer Einladung zur öffentlichen Quartiersratssitzung am 17.10.22 nicht folgen konnten, sind wir an dem Tag als Quartiersräte und Nachbarschaft trotzdem zusammengekommen. Wir haben uns ausgetauscht und zusammengetragen, was für die Menschen im Falkenhagener Feld jetzt wichtig ist und was wir von unseren Politikerinnen und Politikern erwarten.

Wir fordern Sie auf, setzen Sie sich für eine deutliche Verbesserung der Entlastungsmaßnahmen ein, verstärken Sie die Unterstützung für die Menschen. Die Sorgen rund um die Themen „Essen, Wohnen und Einkommen“ prägen unseren Alltag. Und genau hier setzen wir mit unseren Forderungen an.

Wir erwarten:

·     Entlastung bei der Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs: Bereits jetzt gibt es einen stark steigenden Bedarf an Lebensmittelspenden und einen erhöhten Andrang bei Verteilstellen wie den „Tafeln“. Erleichtern Sie die Weitergabe von Lebensmitteln durch Supermärkte an bedürftige Personen.

·     Kontrolle von Konzernen und Einschränkung der Mitnahmeeffekte: Die enormen Preisanstiege auf Lebensmittel sind für viele Menschen, trotz Inflation und Krisen, nicht nachzuvollziehen. Verbraucherschützer weisen bereits seit längerem auf Preisabsprachen und Mitnahmeeffekte der Lebensmittelkonzerne hin. Wir können uns eine Subventionierung dieser Konzerne durch unseren täglichen Einkauf nicht mehr leisten! Hier braucht es stärkere gesetzliche Regelungen zur Entlastung der Bürgerinnen und Bürger.

·     Energetische Sanierung unserer Wohnungen: Der bauliche Zustand einer Vielzahl der Wohnungen im Falkenhagener Feld ist katastrophal. Spätestens jetzt muss die energetische Sanierung massiv vorangetrieben, Wohnungsunternehmen zur Sanierung verpflichtet werden (hierbei muss natürlich sichergestellt werden, dass die umgelegten Kosten keinesfalls die Einsparungen bei Heizung und Wasser übertreffen!).

·     Stoppen Sie die Supersegregation: Wir brauchen Sicherheit bei unseren Mieten. Die Angst vor der kommenden Nebenkostenabrechnung und die Last der steigenden Ausgaben sind an Belastungen bereits zu viel. Es braucht Instrumente zur gerechten Regulierung unserer Mieten, ob durch einen (Mieten)Deckel oder durch andere Zuschüsse. Die Belegungsquoten in unseren Häusern sind unzumutbar: Hier werden keine diversen Nachbarschaften gefördert, sondern bestimmte Problemlagen in einzelnen Häusern konzentriert.

·     Deutliche Erhöhung der Grundsicherung: Die geplante Erhöhung der Grundsicherung in Form des neuen Bürgergeldes laufen ins Leere. Die massive Inflation frisst die Erhöhung der Leistungen nicht nur auf, sondern sorgt dafür, dass die Menschen sich weniger leisten können als vorher. Eine noch stärkere Verarmung einer relevanten Anzahl an Menschen im Falkenhagener Feld können wir nicht hinnehmen. Die Grundsicherung muss deutlich erhöht werden und Menschen dazu befähigt werden, ihre Heizkosten zu bezahlen oder für sich und ihren Kindern Winterkleidung kaufen zu können.

·     Bessere Kommunikation zu Unterstützungsmöglichkeiten: Wir fordern transparente, leicht verständliche und effektive Kommunikation zu möglichen Förderungen und staatlichen Hilfsangeboten. Hierzu braucht es eine aufsuchende Arbeit in den Kiezen und eine offensive Kommunikation amtlicher Anlaufstellen.

Wir fordern Sie auf, Ihre soziale Verantwortung wahrzunehmen. Lassen Sie nicht zu, dass sich die sozialen Problemlagen in unserem Quartier und anderswo weiter verschärfen. In Berlin gibt es 51 Großwohnsiedlungen. Dort leben insgesamt eine Millionen Menschen. Nehmen Sie unsere Anliegen in den Fokus Ihrer politischen Arbeit: Raus aus dem S-Bahn-Ring, rein in die Siedlungen! 

Wir erwarten zeitnah eine Rückmeldung und stehen für weitere Gespräche jederzeit zur Verfügung.

Mit freundlichen Grüßen

die Quartiersräte und Anwohner*innen des Falkenhagener Feldes