Einleitung
Nach dem Krieg herrschte in Berlin Wohnungsnot. Viel Wohnraum war zerstört. Neuer wurde überall geschaffen. Während viele aus dem fernen Berlin ins Falkenhagener Feld zogen, hatte es Frau Linnenbürger, 1954 geboren, nicht sehr weit. Sie wohnte zuvor mit ihren Eltern in Haselhorst, direkt am Bahnhof Gartenfeld, wo sie eine wunderbare Kindheit verbrachte. Das Haus war zwar alt, wahrscheinlich von Siemens errichtet, dafür begann dahinter ein großer Hof mit viel freiem verwildertem Gelände, welches zum Endbahnhof hinausging. Die umgebende grüne Natur war dann auch ein überaus beliebter Spielplatz. Das stete Rattern der S-Bahn entwickelte sich schnell zu einem vertrauten Geräusch.
In recht beengten Wohnverhältnisse lebten auf 2 ½ Zimmern 7 Personen, Oma, Opa, Onkel, Tante, beide Eltern und die Tochter, ein für damalige Verhältnisse nicht ungewöhnlicher Umstand. Als Kind empfand Frau Linnenbürger dies auch nicht besonders störend.
Trotzdem war die Freude der Eltern groß, als sie, nach 10 Jahren Ehe, 1964 im Falkenhagener Feld endlich ihre erste eigene Wohnung bekamen. Der kleinen Tochter fiel die Umstellung anfangs sehr schwer, weil ihr die gewohnte grüne Umgebung fehlte. Noch heute ist Frau Linnenbürger kein Hochhaus-Fan.
Da für den Neubau des Falkenhagener Feldes viele Laubenpiper weichen mussten, bekamen auch diese neue Wohnungen hier. Manche konnten sich von ihren Tieren nicht trennen und so soll es einmal ein Schwein in der Badewanne und Hühner auf dem Balkon gegeben haben. So erzählt man …
Verfolgungsjagt vor der Skyline des Falkenhagener Feld
Silvia Linnenbürger erzählt: In der Rückschau verbrachte ich dort eine sehr schöne Kindheit, was vor allem daran lag, dass zu dieser Zeit vor allem Familien mit Kindern dorthin zogen. Immer war etwas los. Wann immer möglich spielten wir draußen: Hopse, Halli-Hallo und später Gummitwist.
Neben uns wohnte damals Frau Anna Schwarz, eine kleine Dame aus gutem Hause. Sie hatte in Erfurt eine Fabrik und durfte die DDR verlassen, aber ihr Hab und Gut verlor sie dabei. Es war eine bescheidene freundliche und gläubige Frau mit der ich bald Kontakt schloss. Meine Mama half ihr häufig. Ich saß manchmal bei ihr und unterhielt mich mit ihr, brachte sie auch mal zum Arzt oder begleitete sie beim Einkauf. Wir hatten als Nachbarn stets ein gutes Verhältnis zueinander.
Fünf Hochhäuser entstanden damals hinter der Jeremia-Gemeinde am Burbacher Weg. Alle hatten unterschiedliche Farben. Wir wohnten im grünen Block (letzter Aufgang, Falkenseer Chaussee 246). In der Umgebung herrschte noch rege Bautätigkeit. Die heute auf der anderen Straßenseite stehenden Häuser gab es früher noch nicht. Entlang der Falkenseer Chaussee eixtierte eine ganze Reihe von Parkplätzen.
In den Flachbauten, am Henri-Dunant-Platz, in denen sich heute Aldi befindet, waren vorher ein kleiner Kaufladen (Reichelt?), eine Fleischerei, eine Reinigung, ein Zeitungsladen, eine Bank und eine Kneipe. Alles Wichtige für das tägliche Leben war dort versammelt. Die ganzen anderen Hochhauskomplexe standen noch nicht.
Auf dem noch freien Gelände ragten ein paar kleinere Hügel aus Bausand empor, die im Winter willkommene Abfahrten mit dem Schlitten möglich machten. Noch sehr viel später kamen das Ärztehaus und Reichelt an der Ecke zur Falkenseer Chaussee hinzu.
Auf der anderen Seite der Kreuzung Siegener Straße, Westerwaldstraße und Falkenseer Chaussee, in den heutigen Räumen der Stadtteilbibliothek bot ein Supermarkt (erst Bolle?, später Netto) Produkte des täglichen Bedarfs. Früher sorgte an dieser Stelle ein Heizkesselhaus für warme Wohnungen in der Umgebung. Direkt daneben wuchs bald darauf eines von Spandaus größten Hochhäusern empor. Fast utopisch erschien es zu dieser Zeit.
Im Rahmen von Dreharbeiten für einen Jerry-Cotton-Film mit George Nader sperrte man die ganze Falkenseer Chaussee in diesem Bereich. Vor der Skyline mit den entstehenden Hochhäusern gab es Verfolgungsjagden mit amerikanischen Autos. Wir Kinder sind natürlich sofort hin, um zu sehen, was dort geschieht.
Freizeit in der Kirchengemeinde und Kinderspiele
Fast unsere gesamte Freizeit verbrachten wir als Kinder in der nahen Kirchengemeinde (Pfarrer Hartwig Schurig 1959-1967 – Gemeinde Klosterfelde). Es gab da eine Gemeindeschwester, die Schwester Christa, noch gekleidet in klassischer Ordenstracht. Sie hat es fertig gebracht, uns Kinder zu mobilisieren. Wie eine Sozialarbeiterin hat sie uns Kinder geholt, damit wir die Alten-Nachmittage ausrichten. Wir haben für die alten Leute Kaffee gekocht, den Tisch gedeckt, Theater gespielt und Musik gemacht. In den Sommerferien hat sie mit uns Ausflüge gemacht, ist mit uns Schwimmen gegangen, hat mit uns Dampferfahrten gemacht. Kindern, die kein Geld hatten, gab sie etwas. Schwimmen waren wir z. B. im Freibad Berger (Strandbad Oberhavel) in der Schäferstraße. Dabei haben wir Spandau richtig kennengelernt.
In den späteren Jahren veränderten sich die Interessen. Wir spielten Tischtennis im Keller, ab und an gab es Disko. Die schönste Disko war immer „drüben“, auf der anderen Straßenseite, in der Zufluchtsgemeinde. Im neu entstandenen Klubhaus dagegen, war ich selten. Da wurde geraucht/gekifft, was das Zeug hielt … es gab Dosenbier … Richtige Live-Bands traten dort auf – aber das war nicht meine Welt. Ein wenig grenzwertig war es schon, aber meine Eltern waren froh, dass ich in Spandau unterwegs war.
Auf der anderen Straßenseite gab es auch eine andere Kirchengemeinde, die Zufluchtsgemeinde. In dieser gab es immer montags und mittwochs abends Disko für Jugendliche. Unten im Keller haben wir den ersten Blues getanzt und das erste Mal geknutscht. In beiden Kirchengemeinden wurde sehr viel Gemeindearbeit betrieben.
Damals gab’s ja noch kein Handy. Mit meiner Freundin, Monika Hensel, die im Haus schräg gegenüber wohnte tauschten wir dann immer Signale mit Taschenlampen aus. Zum Spielen trafen wir uns dann unten an der Teppichklopfstange, die der Treffpunkt für alle in der Umgebung war. Es konnten schon mal 20 Jugendliche zusammenkommen.
Dann haben wir z. B. mit dem Transistorradio „Schlager der Woche“ gehört oder „Hey Music“. Damals haben wir noch intensiv Gruppenspiele gespielt, z. B. Schnitzeljagd quer durch die Baustellen oder Gummitwist.
Wir haben „Halli-Hallo“ gespielt – Spiele, die man gar nicht mehr kennt. Das war total kreativ. Wir saßen da alle so auf der Bank und einer hatte einen Ball in der Hand und hat Fragen gestellt. Zum Beispiel, „wie heißt die Hauptstadt von England?“ Und dann hat einer gerufen „London“. Dann hat der Ballträger den Ball hochgeworfen, „hallihallo“ gerufen und ist weggelaufen. Und derjenige, die Antwort wusste, hat versucht, den Ball zu fangen und in dem Moment „Stopp“ gerufen. Der Fragensteller hat dann die Arme weit auseinander gehalten und der Antwortende hat versucht, den Ball zwischen den Armen hindurchzuwerfen. Wenn er das geschafft hatte, durften sie sich abwechseln.
Wir haben richtig toll gespielt – stundenlang. Richtig mit Kopf benutzen, Fragen stellen und bewegen. In den verkehrsberuhigten Straßen konnten wir damals auch ohne Angst Rollschuh fahren. Die Falkenseer Chaussee war schon recht stark befahren, die Siegener Straße dagegen recht wenig. Wir konnten uns austoben ohne Ende. Und als wir älter wurden, sind wir dann davongeschlichen zum Kiesteich. Das war so meine Jugendzeit, die ich mit dem Falkenhagener Feld verbinde.
Schwester Christa, aus der Jeremia-Gemeinde, hörte dann irgendwann auf und legte ihre Ordenstracht ab. Sie hatte einen Mann kennen gelernt und geheiratet – einen Witwer mit fünf Kindern. Pfarrer Schurig muss auch etwa in dieser Zeit pensioniert worden sein.
Ich kann nicht sagen, ob es danach noch so intensive Jugendarbeit gab wie zuvor. Ich selbst hatte das Glück, „angekommen“ zu sein, als ich das erste Mal dort in die Kirchengemeinde kam. Wir Kinder haben dort auch Aufgaben gehabt, so haben wir z. B. die Kollekte eingesammelt, Gottesdienste mitgestaltet, alten Leuten die Tür aufgehalten oder sie nach Hause gebracht – das, was wir auch heute versuchen, Kindern als soziales Engagement nahezulegen. Für uns war das selbstverständlich.
Meine Eltern sind überhaupt nicht religiös. Außer zu Weihnachten, Hochzeiten, Taufen und Beerdigungen sind sie nicht in der Kirche gewesen. Papa fragte mich immer: „Wo bist du denn andauernd und was machst du da?“ Für uns war die Kirche ein Jugendfreizeitheimersatz.
Obwohl es in dem Komplex so viele Kinder gab, war Gewalt kein Thema. Ich kann mich überhaupt nicht an Gewalt erinnern. Mal ein bisschen Gestänker oder Genecke, ein bisschen jagen und toben, aber keine brutalen Eingriffe. Das schlimmste, woran ich mich erinnern kann, war, dass welche geklaut haben. Eine Freundin hatte mir z. B. das Sparschwein geklaut. Wir hatten aber nie Angst, abends draußen auf der Straße zu sein. Beschwert haben sich die Anwohner natürlich auch, wenn wir draußen gespielt und unsere Musik gehört haben – mit unseren kleinen Transistorradios.
Als wir älter wurden, haben wir auch alleine größere Touren gemacht, z. B. sind wir mit dem Fahrrad zum Strandbad Oberhavel gefahren. Dabei haben wir entweder den Weg über den Friedhof „In den Kisseln“ genommen oder den großen Bogen über die Pionierstraße geschlagen. Obwohl wir es nicht durften, haben wir natürlich den Rummel, der zweimal im Jahr an der Falkenseer Chaussee standfand, besucht. Außerdem ging es regelmäßig in das „JetPower“ in der Klosterstraße. Und im Schwedenhaus war regelmäßig Disko. Auch private Partys konnte man dort feiern.
Schultage im FF
Heute bin ich Lehrerin an der B-Traven Oberschule, an der ich mit 10 Jahren in die 3. Klasse eingeschult wurde. Da schließt sich der Kreis wieder … Die Schule selbst war früher zweigeteilt. Unten befand sich eine Hauptschule und im 1. Stock die Grundschule.
Die Umgebung der jetzigen B.-Traven-Schule sah damals noch deutlich anders aus als heute. Hinter der Schule gab es einen Schulgarten. Neben der Schule, am Remscheider Weg, standen zwei Holzbaracken, in denen Kinder wohnten, deren Eltern ihre Wohnung verloren hatten. Damals nannte man solche Wohnsiedlungen „Mau-Mau-Siedlungen“.
Neben meiner Schule lebte unsere Klassenlehrerin Frau Raschke. Sie war mein großes Vorbild – lebhaft, hilfsbereit und herzlich. Immer half sie uns dabei, die Handarbeiten fertig zu bekommen. Wir durften ab und an zu ihr nach Hause. Hohlsaumarbeiten zu Muttertag. Für mich immer ein Graus
Als Frau Raschke später einmal meine Mutter traf und erfuhr, dass ich auf Lehramt studiere, schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen. Wie kann die nur Lehrerin werden wollen!
Nach meinem Studium bot man mir eine Stelle in meiner alten Schule an. Rektor war Herr Dahlke. Es war 1980 und der Beginn unserer Schule, sich von einer Hauptschule zu einer Gesamtschule zu wandeln. Sehr viele junge Lehrer kamen an die Schule, die nur „5.O“ hieß. „Unseren“ Namen B.-Traven-Oberschule bekamen wir erst später. Über die Büchergilde Gutenberg wurden Kontakte hergestellt zu den Hinterbliebenen B. Travens. Bei der Einweihung, d.h. Namensgebung, war auch ein Familienmitglied aus Mexiko dabei.
Ich fing mit 22 Wochenstunden an. Heute sind es 26. Die Klassengröße betrug, damals, wie heute, etwa 26 bis 28 Schüler. Bald waren wir bekannt für eine gute Integrationsarbeit. Kunststück, es waren gute Bedingungen: 23 Schüler, 3 davon Integrationskinder und 18 Stunden doppelte Besetzung. Ein Traum. Alle Kinder profitierten davon. Manchmal war noch ein zusätzlicher Betreuer dabei. Ich hatte zwei blinde Schüler in der Klasse. Das war für uns alle eine wichtige Erfahrung.
Heute wollen wir mit 3 Stunden pro Integrations-Kind alles Mögliche fördern. Von gymnasialer Empfehlung bis hin zu Lernbehinderungen – ohne zusätzliche Hilfen. Binnendifferenzierung (oder innere Differenzierung) heißt das. Für eine vernünftige geplante Differenzierung, die allen Kindern individuell gerecht werden soll, benötigt man das Fünffache an Planungszeit – wenn es gut werden soll! Außerdem hat man uns das 13. Monatsgehalt gestohlen und anderes mehr. Die jungen Kolleginnen tun mir sehr leid. Viele wandern aus, weil die Bedingungen in Berlin nicht stimmen.
Als ich auf meiner alten Schule damals als Lehrerin anfing, war der Migrantenanteil – damals sagte man noch Gastarbeiter – schon etwas höher geworden. Die zogen aber alle auf die andere Straßenseite. Ich sagte zu meinen Schülern: „Geht doch ruhig auch mal drüben ins Klubhaus! Schaut es euch an oder spielt Kicker.“ Sie meinten jedoch: „Wir deutschen Kinder gehen da nicht hin. Das ist alles in der Hand von denen, die da wohnen.“
Veränderungen
Meine Eltern wohnen immer noch hier. Für sie hat sich schon einiges geändert. Damals konnte man von unserer Wohnung aus noch weit über die Falkenseer Chaussee und in andere Richtungen gucken – heute geht das nicht mehr, weil überall Häuser gebaut wurden.
Inzwischen sind auch viele russischstämmige Mieter eingezogen. Zu manchen Russland-Deutschen hat meine Mutter oberflächlichen Kontakt. Die älteren Leute, die auf den Bänken sitzen, grüßen freundlich. Die jungen russischen Männer trinken gerne Alkohol. Das macht den Alten Angst.
Viele sind gut ausgebildet, haben aber große Schwierigkeiten, eine qualifizierte Arbeit zu finden. Ich erinnere mich an einen Jungen aus meiner Klasse, dessen Vater Pilot und dessen Mutter Ärztin war. Der Vater war arbeitslos und die Mutter hat geputzt. Bei einem anderen Schüler habe ich erlebt, dass die Eltern wieder zurück nach Russland gegangen sind, weil sie hier keine angemessene Arbeit gefunden haben, sie selbst aber unbedingt etwas tun wollten.
Ich selbst bin mit 20 aus dem FF weggezogen, in einen Altbau mit Ofenheizung. Meine Eltern waren entsetzt. Heute wohnen im Haus meiner Eltern noch 5 der Erstbewohner. Die Kinder zogen aus, die Leute sind über 70-80 Jahre alt und können teilweise nicht mehr alleine wohnen, oder aber die Wohnungen sind viel zu groß für sie.
Ralf Salecker
Frühe Jahre im Falkenhagener Feld (Fotos. Linnenbürger)